Das ganze Leben ist von irgendeiner Form eines inneren Dranges nach Befriedigung beherrscht. Dieser Drang ist charakteristisch für das Suchen und Streben des Menschen in jedem Stadium seiner Entwicklung, – sei es der instinktmässige Drang der Selbsterhaltung, der im Wilden als Nahrungssuche oder beim zivilisierten Menschen in wirtschaftlichen Problemen zum Ausdruck kommt, sei es der Trieb der Arterhaltung, der sich heute in Gelüsten eines verwickelten Geschlechtslebens Befriedigung verschafft, sei es die Sucht, populär, geliebt und geschätzt zu sein, sei es das Streben nach intellektuellen [15-155] Freuden und geistiger Wahrheitserkenntnis, oder sei es die tiefwurzelnde
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Sehnsucht nach Freuden des Himmels und ewiger Ruhe, die den Christen so gefangen nimmt, oder das Streben nach Erleuchtung, nach dem es den Mystiker verlangt, oder der „sehnliche Wunsch“ des Okkultisten, mit der Wirklichkeit eins zu werden. All das ist Verlangen, das in irgendeiner Form zum Ausdruck kommt, und von diesen Antrieben wird die ganze Menschheit beeinflußt und beherrscht, entscheidend beherrscht würde ich sagen; das ist einfach eine Feststellung von Tatsachen.
Diese Erkenntnis, daß der Mensch einen so tiefgründigen Hang hat, der ihn beherrscht, machte Buddha zur Grundlage seiner Lehre. Sie kommt in den „Vier Edlen Wahrheiten“ der buddhistischen Philosophie zum Ausdruck; sie lauten in kurzer Fassung:
Die Vier Edlen Wahrheiten
a) Existenz in der Erscheinungswelt ist von Leid und Kummer nicht zu trennen.
b) Die Ursache allen Leidens ist das Verlangen nach einem Dasein in der äußeren Welt.
c) Alle Leiden nehmen ein Ende, wenn das Verlangen, in einer äußeren Welt zu leben, erlischt.
d) Der Weg, der das Leiden beendet, ist der edle achtfältige Pfad.
Christus erkannte, wie dringend notwendig es sei, daß der Mensch von seiner eigenen Wunsch-Natur loskomme. Daher betonte er, daß man das Wohl des Nächsten und nicht sein eigenes im Sinne haben solle. Er empfahl ein Leben des Dienens und der Selbsthingabe, ein Leben in Selbstvergessen und Liebe zu allen Wesen. Nur auf diesem Weg können die Gedanken und „das Auge des Herzens“ von den eigenen Bedürfnissen und deren Befriedigung zu den wichtigeren Forderungen hingelenkt werden, welche die ganze Menschheit betreffen.
Solange der Mensch noch nicht auf dem Pfad der Vollkommenheit wandelt, kann er das gebieterische Verlangen seiner eigenen Seele, [15-156] sich vom Streben nach äußerer, materieller und sinnlicher Befriedigung freizumachen und das Wünschen aufzugeben, nicht verstehen. Gerade dieses Verlangen zeigte an, daß die Seele „Fleisch
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werden“ mußte, um Gemäß dem Gesetz der Wiedergeburt für eine gewisse Periode tätig zu sein. Je weiter die Läuterung des Menschen auf dem Probepfad voranschreitet, umso stärker und deutlicher wird dieses Verlangen, dem Wunschleben zu entsagen. Wenn er dann zum Jünger geworden ist, kann das Gesetz der Abstoßung zum erstenmal wirksam werden und die menschlichen Reaktionen leiten und beherrschen. Anfänglich findet diese Kontrolle unbewusst statt. Wenn aber der Jünger eine Einweihung nach der anderen besteht und sein Verständnis zunimmt, wird diese Lenkung immer wirksamer und sie wird auch bewußter empfunden.
Alice A. Bailey, Esoterische Psychologie, Band II, 177