Die Universalreligion

Aus dem Dunkel der Frühzeit sind die großen Religionen entstanden. Obgleich diese Religionen in ihren Theologien und Kultusformen verschiedenartig sind, obgleich sie sich in der Organisation und im Zeremoniell voneinander unterscheiden und verschiedene Methoden anwenden, um die Wahrheit praktisch zu verwerten, so haben sie doch drei grundlegende Aspekte gemeinsam:

1. Ihre Lehren über das Wesen Gottes und des Menschen.

2. Ihre Symbole.

3. Bestimmte grundlegende Lehrsätze.

Wenn die Menschen das erkennen und wenn es ihnen gelingt, jenes innere, bedeutsame Wahrheitsgefüge herauszuschälen, das in allen Himmelsstrichen und bei allen Rassen dasselbe ist, dann wird daraus die Universalreligion entstehen, die Eine Kirche, jene eine, wenn auch nicht gleichförmige Annäherung an Gott, welche die Wahrheit der Worte des Paulus bestätigen wird: „Ein Herr, ein Glaube, eine Taufe, ein Gott und ein Vater unser aller, der da ist über allen und durch alle und in euch allen.“ Lehren über Gott werden vergehen in dem Wissen um Gott; Doktrinen und Dogmen werden nicht länger als notwendig erachtet werden, denn der Glaube wird auf Erfahrung gegründet sein, und Autorität wird der persönlichen Wahrnehmung und Einschätzung der Wirklichkeit weichen. Die Macht der Kirche über die Gruppe wird durch die Macht der in den Menschen erwachten Seele verdrängt werden; das Zeitalter der Wunder und der Streitgespräche über das Wie und Warum der Wunder mit der daraus folgenden Skepsis oder

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Ungläubigkeit wird dem Verständnis für die Naturgesetze weichen, die in den übermenschlichen Reichen und auf den übernatürlichen Stufen des Evolutionsganges herrschen. Der Mensch wird sein göttliches Erbe antreten und sich selbst als Sohn des Vaters erkennen mit allen göttlichen Merkmalen, Kräften und Fähigkeiten, die zu ihm gehören, weil sie seine göttliche Mitgift sind. Aber was erleben wir in der Zwischenzeit? Ein Zerbrechen der alten, festgelegten Traditionen, eine Auflehnung gegen die Autorität, sei es die der Kirche, eines Dogmas, einer Doktrin oder einer Theologie; eine Neigung zur Selbstbestimmung kommt auf, die alten Regeln werden über Bord geworfen und die alten Schranken für das Denken sowie die Unterschiede beseitigt, die zwischen Rassen und Glaubensbekenntnissen bestehen.

Daher gehen wir jetzt durch ein Zwischenstadium des Chaos und des Zweifels, der Empörung und daraus folgender, scheinbarer Zügellosigkeit. Die Methoden der Wissenschaft — Forschung und Analyse, Vergleich und Schlußfolgerung — werden auf religiöse Glaubensdinge angewendet. Die Geschichte der Religionen, die Begründung der Lehren, der Ursprung der Ideen und das Wachstum der Gottesidee werden der Forschung und dem Studium unterworfen. Dies führt zu vielen Streitereien und es werden die alten, festgefahrenen Ideen über Gott, die Seele, den Menschen und sein Schicksal verworfen. Es hat immer Geistesrichtungen mit verschiedenen Ideen und Methoden gegeben, und die sechs Schulen der indischen Philosophie haben praktisch alle grundlegenden Vermutungen des Menschen über Warum und Weshalb der sichtbaren Schöpfung umfaßt. Vom Westen ist den Lehrern dieser sechs theoretischen Schulen wenig Neues hinzugefügt worden, obgleich das westliche Denken mit seiner großen Begabung für wissenschaftliche und technische Methoden die Ideen ausgearbeitet und die sechs Theorien in eine Vielfalt kleinerer Lehrsätze zergliedert hat. Aus dem Gemisch von Ideen, Theorien, Spekulationen, Religionen, Kirchen, Kulten, Sekten und Organisationen treten zwei Hauptrichtungen hervor: die eine ist schließlich zum Aussterben verurteilt, die andere soll erstarken und wachsen, bis sie ihrerseits jene (für uns) endgültige

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Formulierung der Wahrheit ins Leben rufen wird, die für das nächste Zeitalter genügt und den Menschen auf eine hohe Zinne des Tempels und auf den Berg der Einweihung führen wird. Diese zwei Richtungen sind:

1. Jene, die rückwärts auf die Vergangenheit schauen, den alten Methoden, den veralteten Theologien und den reaktionären Ablehnungsmethoden zur Auffindung der Wahrheit anhängen. Es sind die Leute, die eine Autorität anerkennen, sei es nun die eines Propheten, einer Bibel oder einer Theologie. Es sind jene, die den Gehorsam gegenüber einer von außen auferlegten Autorität dem selbstauferlegten Geführtwerden durch die erleuchtete Seele vorziehen. Es sind die Anhänger einer Kirche und einer Regierung, die sich zwar durch reine Hingabe und Liebe auszeichnen, dabei aber die göttliche Intelligenz, mit der sie begabt sind, nicht erkennen wollen. Ihre Hingabe, ihre Liebe zu Gott, ihr strenges, aber irregeleitetes Gewissen, ihre Intoleranz kennzeichnen sie als gläubige Gefolgsleute, aber sie sind geblendet durch ihre eigene Hingabe, und ihr geistiges Wachstum wird durch ihren Fanatismus beeinträchtigt. Sie gehören meistens der älteren Generation an und für sie liegt die Hoffnung in ihrer Hingabe und in der Tatsache, daß die Evolution selbst sie weiter in die zweite Gruppe führen wird.

Die erste Gruppe ist mit der Kristallisierungsarbeit betraut, die zur vollständigen Zerstörung der alten Formen führen wird; es ist ihr die Aufgabe gestellt, die alten Wahrheiten genau zu umgrenzen, so daß das Denken der Menschen geklärt wird und die unwesentlichen und die wesentlichen Dinge erkannt werden als das, was sie sind; der Formulierung von Dogmen werden grundlegende Ideen derart gegenübergestellt, daß man das Grundsätzliche erkennen und darum die zweitrangigen, unwichtigen Anschauungen zurückweisen wird; denn nur das Grundsätzliche, Ursächliche wird dem kommenden Zeitalter von Wert sein.

2. Die zweite Gruppe ist bis jetzt noch eine sehr kleine Minderheit, die aber ständig wächst. Es ist jene innere Gruppe der Gott liebenden Menschen, der intellektuellen Mystiker, derer, welche die Wirklichkeit kennen, die zu keiner Religion oder Organisation gehören, sich aber als Mitglieder der Universalkirche und als „Zueinander gehörige Glieder“ betrachten. Sie finden sich aus allen Völkern, Massen und Menschentypen zusammen; es ist unter ihnen

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jede Farbschattierung und Geistesrichtung vertreten, und doch sprechen sie dieselbe Sprache, lernen dieselben Symbole, gehen denselben Pfad, lehnen dieselben Unwichtigkeiten ab und haben dieselbe Substanz wesentlicher Glaubensideen herausgeschält. Sie erkennen einander; sie verehren die geistigen Führer aller Rassen in gleichem Maß und benutzen mit gleicher Freiheit die Bibel der anderen. Sie bilden den subjektiven Hintergrund der neuen Welt; sie stellen den geistigen Kern der kommenden Weltreligion dar; sie sind das vereinende Prinzip, das schließlich die Welt erlösen wird.

Eine Abhandlung über weiße Magie oder der Weg des Jüngers, 04-326

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